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VERLIERT RHEINHESSEN SEIN GESICHT?

Und zum Abschluss noch einmal Bodo Witzke, der Fotograf der Bilderserie "Historisches Rheinhessen in der VG Nieder-Olm". Er berichtet, was ihn dazu gebracht hat, seine Bilderserie zu machen, was die Geschichte Rheinhessens mit dem zu tun hat, was er heute (nur) noch mit seiner Kamera dokumentieren kann. Sorgenvoll schaut er auf die Veränderungen der letzten Jahrzehnte und auf den aktuellen Druck auf die historischen Ortskerne ... aber ein "modernes Lebensgefühl" könnte vielleicht helfen, findet er.


Von Bodo Witzke (Lokale Agenda Klein-Winternheim)

Als die VG Nieder-Olm 1972 neu geschaffen wurde, war „Rheinhessen“ schon über 150 Jahre alt. Noch etwas länger lag seine kurze, aber prägende Zeit unter französischer Herrschaft zurück, und noch davor geschahen die furchtbaren Zerstörungen und Entvölkerungen des 30-jährigen Krieges und der Pfalzverwüstung. Aber immer wieder gab es Phasen des Aufbaus und des Wohlstands, viel hatten die Rheinhessen ihren herausragend guten Böden zu verdanken. Das alles gehört zum Erbe der 1972 gegründeten Verbandsgemeinde.

Die Suche nach Historischem aus Lehm, Holz und Stein

In der Verbandsgemeinde Nieder-Olm findet sich wegen der historischen Zerstörungen des 17ten Jahrhunderts kaum ein Gebäude aus dieser frühen Zeit. Hier und da gibt es spätbarockes Fachwerk aus dem 18ten Jahrhundert, typisch sind die erst einstöckig angelegten Bauernhäuser, oft aus Bruchstein, die später um ein weiteres Stockwerk erhöht wurden, oft aus einem anderem Material.

Wer, wie ich, als geschichtlicher Amateur unterwegs ist, will es sich einfach machen und denkt vielleicht: Fachwerkhäuser, wie sie z.B. in Jugenheim zu finden sind, das sind bestimmt die ganz alten, die vielleicht noch barocken Gebäude in der VG. Für viele Jugenheimer Häuser stimmt das sogar. Aber dummerweise entstand Ende des 19ten Jahrhunderts die Mode des Historismus und z.B. der wunderbare Fachwerk-Gasthof „Domherrenhof“ in Essenheim ist im Zuge dieses Trends, der alte Baustile wieder aufnimmt, entstanden – er ist also verhältnismäßig jung, vom Anfang des 20ten Jahrhunderts. Das macht die Zeitbestimmung schwierig, die Freude am Anblick der Gebäude schmälert es nicht. Und in dieser Ausstellung ist die Entstehungszeit vieler Gebäude angegeben, vielleicht ist manche Überraschung dabei.

Rheinhessen und der Klassizismus

Es ist spannend zu entdecken, wie sich das Bauen nach der Barockzeit verändert hat, als Rheinhessen im Jahr 1816 – nach der französischen Besetzung und im Zuge des Wiener Kongresses – als ein einheitlicher Verwaltungsraum an den Darmstädter Herzog aus Hessen fällt. Zu diesem Zeitpunkt entsteht auch der Name „Rheinhessen“. Die rechtsrheinische hessische Bauverwaltung, jetzt auch zuständig für das linksrheinische Rheinhessen, setzt auf den modernen Klassizismus und fördert diesen Baustil wo sie kann. Es werden neue repräsentative Gebäude im klassizistischen Stil in der neuen Provinz errichtet, wie eine Schule in Klein-Winternheim oder ein Haus für den Friedensrichter in Nieder-Olm, heute sind es die „alten Rathäuser“. Standardisierte Baupläne werden von der herzoglich-hessischen Verwaltung angeboten, für kleine, mittlere und größere Höfe, alle im klassizistischen Stil. Viele der Bauern haben im aufstrebenden 19ten Jahrhundert dieses Angebot, preiswert zu einem Bauplan zu kommen, angenommen, die Fotos zeigen das Ergebnis. Ungewöhnlich und besonders erscheinen mir in der VG die vielen Häuser im klassizistischen Stil zu sein, die aus Bruchsteinen errichtet wurden. Sie sind mir besonders in Ober-Olm, Essenheim, Stadecken aufgefallen. Später, gegen Ende des 19ten Jahrhunderts, wandelt sich das Material, gebrannte Ziegel werden modern.

Und was sagt Carl Zuckmayer?

Folgt man dem berühmten Sohn Rheinhessens, Carl Zuckmeyer, dann ist der typische Rheinhesse, und mutmaßlich dann auch die typische Rheinhessin, wenig an der Historie interessiert. Die Rheinhessen würden in der Gegenwart leben, urteilt der Schriftsteller. Wie kann das kommen? Vielleicht liegt es an den Nachwirkungen der großen Bevölkerungsumschichtungen nach dem 30-jährigen Krieg und nach der Pfalzverwüstung? Später dann die radikalen Umbrüche auf dem plötzlichen Weg in den modernen Staat, als die französischen Revolutionäre die Region besetzten und u.a. die traditionellen Stände auf einen Schlag abschafften? Schon im 19ten Jahrhundert haben die Rheinhessen sich lieber wie freie Städter gekleidet, statt Trachten zu tragen. Effektive Modernisierungen der Landwirtschaft durch Zugezogene, eine – wenn auch späte – Industrialisierung und dann das Elend der beiden Weltkriege und der Nazi-Zeit haben möglicherweise zu einer verständlichen generellen deutschen Reserviertheit der eigenen Vergangenheit gegenüber geführt. Alles Gründe weshalb französische Orte oft mehr Frieden mit sich und ihrer Historie geschlossen haben, als deutsche und auch rheinhessische Orte, die sich z.T. in der Nachkriegszeit, in den letzten Jahrzehnten, drastisch verändert haben.

Ein Augenzeuge zu den Umbrüchen der letzten Jahrzehnte

Ein Kollege von mir, ein Kameramann, schildert in einem privaten Brief, wie er den Prozess der Veränderung der rheinhessischen Dörfer vor einige Jahrzehnten erlebt hat. Er hatte in den Sechzigern eine Hofreite in einem der Orte hier, ging dann in die Welt und kam Jahrzehnte später wieder zurück. Aus seinem Brief:

"... gestern war die Ortsmitte von ... gesperrt und ich habe den Ort dann umfahren und bin dann in den Ortskern zu Fuß gegangen. Dabei habe ich mir in Ruhe die Häuser ansehen können. Und ich war erschüttert: Über die grauenhafte Verschandelung der alten Bausubstanz. Hier ist im Krieg keine Bombe gefallen, aber es sieht so aus als ob. Ohne Form und Materialgefühl wird an den traditionellen Höfen rumgewütet, weil es wie "Neubau" oder "städtisch" aussehen soll. Die noch erhaltenen wenigen Höfe mit dem wunderbaren warmen und zugleich silbrigen Farbton der Steine ihrer Mauern, die Fenster mit Sprossen und Schlagläden lassen die allgemeine Kulturvernichtung nur noch schmerzlicher erscheinen. Von 1963 bis 68 hatte ich einen kleinen rheinhessischen Hof mit Nebengebäuden. Da hatte alles gestimmt, auch die Nachbarhöfe – der ganze Ort. Heute sieht er aus wie eine Wüstenrot-Siedlung. Der Reiz von Rheinhessen war einmal der warme Farbton der Lössböden, aus denen die Steine und Ziegel gebrannt wurden. Das helle Ocker der Dörfer im Grün der Weinberge hat mich seinerzeit entzückt – alles perdu! Warum müssen denn Häuser und Höfe weiß mit schwarzem Dach sein? Und die Materialien, die heute verwendet werden, altern schlecht, sie bekommen keine Patina sondern vergammeln mit der Zeit. Eine kleine Ehrenrettung: Ich war ja auch in den Höfen drin gestern, da sieht es zum Teil noch besser aus, manchmal sogar richtig liebevoll ...“

Und dann noch mal der Stoßseufzer meines Kollegen:

„… ach ja, das alte Rheinhessen, wie ich es 1960 kennengelernt habe, war ein zauberhaftes Land: die sanften Hügel, die Dörfer in den Tälern verkuschelt – ich liebte es, die Farbe der Häuser beige wie die Erde, aus denen sie gebaut waren und alles so angenehm bescheiden. Und dann ging es rasend schnell.“

Verlieren die Orte in Rheinhessen ihr "Gesicht"?

Nun muß man noch nicht alles verloren geben, die Fotos dieser Ausstellung zeigen es, aber in der Tat ist der Auslöser dieser Fotoserie die Tatsache, dass in „meinem“ Dorf Klein-Winternheim zur Zeit alte Gebäude abgerissen wurden oder abgerissen werden sollen, die wichtig für das immer noch erkennbare charakteristische Erscheinungsbild des Ortes sind (, wobei aber auch unübersehbar ist, dass in den vorhergehenden Jahrzehnten schon vieles verloren gegangen ist). Die berechtigte und durchaus schockierende Sorge wächst, dass der Ort vollends sein Gesicht verliert, seine erkennbare Geschichte – und dass es anderen Gemeinden in der VG vielleicht ähnlich ergeht.

Angefangen habe ich in Klein-Winternheim mit der fotografischen Spurensuche nach dem „alten Dorf“. Dann habe ich den Blick auf die Dörfer und die Stadt der Verbandsgemeinde ausgeweitet. Ja, es gibt eine Menge toller Häuser zu entdecken, auf die ihre Besitzer offensichtlich stolz sind; die sie pflegen und hegen. Gesehen habe ich aber auch viele Höfe und Anlagen, die unbewohnt wirken, dem Zahn der Zeit anheimgegeben. Viel zu selten gibt es kleine oder größere Ensembles, das heißt in sich stimmige Ecken in den Gemeinden, die größer als ein, zwei Häuser sind. Ein bisschen scheint es, als mache jeder was er will, der eine schmückt sein Haus, der andere reißt es ab.

Volker Gallé, ein großer Freund Rheinhessens, stellt fest, dass es in dem Landstrich viel typische rheinhessische Kultur gäbe, sie sei aber fragmentiert; ähnliches scheint mir für den Erhalt alter Bausubstanz, für die flächendeckende Durchsetzung von wirkungsvollen Bauerhaltungssatzungen auch zu gelten, alles ist eher punktuell. Volker Gallé ist allerdings verhalten optimistisch, das Bewusstsein für den Wert der historischen Bausubstanz sei gewachsen. Die Bereitschaft abzureißen aber möglicherweise auch.

Vergangenheit zu schützen als moderne Haltung

Rheinhessen ist ein politisches Konstrukt gewesen, die VG Nieder-Olm ist ebenfalls ein politisches Konstrukt, warum dann die Suche nach einer rheinhessischen Baukultur in der Verbandsgemeinde? Vielleicht steht ein ganz moderner Gedanke dahinter, der Wunsch sich in Zeiten der Globalisierung in konkreten Regionen zu verankern, den Begriff des „Regroundings“ habe ich mal gelesen. In der Kompilation der Bilder alter Gebäude aus Essenheim, Jugenheim, Klein-Winternheim, Nieder-Olm, Ober-Olm, Stadecken-Elsheim, Zornheim entsteht ein konzentrierter Blick auf unsere erhaltenswerte Geschichte. Das ist einfach schön, weitet den Blick auf die Welt und betont das Individuelle unserer Region. Ach ja: Um die Moderne muss sich niemand Sorgen machen, die findet ihren Platz, schließlich stehen die Rheinhessen und Rheinhessinnen mitten im Leben – dazu gehört aber auch ein angemessener Umgang mit der Vergangenheit. Vielleicht ist es ja inzwischen die modernste Haltung, Historisches energisch zu schützen! Hier und da beginnen "Dorfmoderationen", es heißt, es solle die "Dorfcharakteristik" erhalten werden, es wird Arbeit in "Dorferhaltungssatzungen" gesteckt obwohl – oder vielleicht gerade – weil der Siedlungsdruck in der Region so enorm zunimmt. Projekte zum Erhalt alter Häuser, wie hier vorgestellt, lassen da hoffen. Zum Erhalt der charakteristischen alten Häuser gehört natürlich auch die Erinnerung an die Menschen, die früher in ihnen gelebt haben, es gibt Museen, ein neues hat gerade in Nieder-Olm seine Arbeit aufgenommen. Dazu gehören auch die schmerzhaften Erinnerungen, wie die an die Vertreibung unserer jüdischen Mitbürger, auf die Wolfhard Klein hier aufmerksam gemacht hat und die sich in der Geschichte mancher Häuser widerspiegelt. Hoffen wir also, dass die Initiativen in ihren verschiedenen Bereichen Erfolg haben, dass die Geschichte lebendig erhalten werden kann und dass die Fotos der Serie "Historisches Rheinhessen in der VG Nieder-Olm" nicht irgendwann nur noch Erinnerung an das sind, was einmal war.


NACHTRAG

Abrisse und drohende Abrisse alter, für das Dorfbild charakteristischer Häuser, hatten mich dazu gebracht, mit der Kamera zu dokumentieren, was es an erhaltenswerter Bausubstanz in "meinem" Dorf Klein-Winternheim und in den anderen Orten der VG Nieder-Olm (noch) gibt. 

Unmittelbar vor Beginn dieser Ausstellung im Mai 2022, sind zwei Dinge in meinem Dorf Klein-Winternheim passiert: Zum einen beschloss der Gemeinderat Veränderungssperren im Dorfkern, um drohende Abrisse zumindest erstmal zu verhindern, eine Dorfmoderation soll gestartet werden. Zum anderen: Dem reizenden Haus in der "Hauptstr. 26", das ich auch in meiner Bilderserie zeige, konnte das alles nicht mehr helfen, es ist in den letzten Tagen abgerissen worden.


Literatur:

- Volker Gallé: Kunstreiseführer Rheinhessen. Kultur und Geschichte im Hügelland zwischen Worms und Bingen, Mainz und Alzey. Ingelheim 2010

- StadtBild Deutschland e.V.: Essenheim 2013 (Online-Seite abgerufen am 4.1.2022)

- Hans-Valentin Kirschner, Elmar Rettinger: Nieder-Olm im Herzen von Rheinhessen. Ein Rundgang. Nieder-Olm 2014

- Gunter Malerwein: Rheinhessen 1816-2016. Die Landschaft – Die Menschen. Oppenheim 2015

- Dieter Krienke: Zwischen Klassizismus und Traditionalismus – Baukultur und Baupolitik in der Provinz Rheinhessen. In: Franz Josef Felten (Hrsg.), Michael Matheus (Hrsg.): Rheinhessen – Identität – Geschichte – Kultur. Stuttgart 2016



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